AG Goslar entscheidet über Schadensersatz nach DSGVO

BVerfG Beschluss vom 14. Januar 2021 Az. 1 BvR 28531/19: Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV – EuGH muss Voraussetzungen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO klären

BVerfG Beschluss vom 14. Januar 2021 Az. 1 BvR 28531/19: Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV – EuGH muss Voraussetzungen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO klären

Sachverhalt

Ein Rechtsanwalt (Kläger) erhielt eine Werbe-E-Mail von der Beklagten an seine berufliche E-Mail-Adresse. Darin sah der Kläger eine Verarbeitung nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO von personenbezogenen Daten iSd Art. 4 Nr. 1 DSGVO, dessen Rechtmäßigkeit sich nach Art. 6 DSGVO richtet.

Da ein Erlaubnistatbestand nach Art. 6 Abs. 1 DSGVO, insbesondere eine Einwilligung nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. a DSGVO nicht vorgelegen habe, klagte der Kläger vor dem Amtsgericht Goslar. Mit der Klage vom 7. Januar 2019 beantragte der Kläger erstens, den Beklagten des Ausgangsverfahrens zu verurteilen, es zu unterlassen, zu Werbezwecken mit ihm per Email Kontakt aufzunehmen bzw. aufnehmen zu lassen, ohne dass seine ausdrückliche Einwilligung vorliege, zweitens Auskunft (Art. 15 DSGVO) über die ihn betreffenden gespeicherten Daten zu erteilen, drittens festzustellen, dass die geltend gemachten Ansprüche aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung stammten, sowie viertens die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes (Art. 82 Abs. 1 DSGVO) zu verurteilen. Die Höhe des Schadenersatzanspruchs stellte der Kläger zwar in das Ermessen des AG, allerdings sollte die Höhe zumindest 500 EUR nicht unterstreiten, dies wird im Verlauf des Verfahrens von zentraler Bedeutung sein.

AG Goslar Urteil vom 27. September 2019 – 28 C 7/19

Das AG Goslar urteilte wie folgt.

Unterlassungs- bzw. Auskunftsanspruch

Die Klage des Klägers war hinsichtlich des Unterlassungs- bzw. Auskunftsanspruchs erfolgreich.

AG Goslar: Kein Schadensersatzanspruch nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO

Allerdings verneinte das AG Goslar das Vorliegen eines Schadens und lehnte in der Folge einen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO mit Urteil vom 27. September 2019 – 28 C 7/19 ab.

(Immaterieller) Schaden iSd Art. 82 Abs. 1 DSGVO

Bevor auf die Begründung des AG Goslar eingegangen werden soll, soll zunächst der Begriff des (immateriellen) Schaden iSd Art. 82 Abs. 1 DSGVO näher erörtert werden.

Erwägungsgrund 146 Verordnung (EU) 2016/679

Im Rahmen der Auslegung des (immateriellen) Schadensbegriff im Rahmen von Art. 82 Abs. 1 DSGVO ist vor allem der Erwägungsgrund 146 Verordnung (EU) 2016/679) von Bedeutung:

„… Der Begriff des Schadens sollte im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs weit auf eine Art und Weise ausgelegt werden, die den Zielen dieser Verordnung in vollem Umfang entspricht. Dies gilt unbeschadet von Schadenersatzforderungen aufgrund von Verstößen gegen andere Vorschriften des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten. Zu einer Verarbeitung, die mit der vorliegenden Verordnung nicht im Einklang steht, zählt auch eine Verarbeitung, die nicht mit den nach Maßgabe der vorliegenden Verordnung erlassenen delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten und Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Präzisierung von Bestimmungen der vorliegenden Verordnung im Einklang steht. Die betroffenen Personen sollten einen vollständigen und wirksamen Schadenersatz für den erlittenen Schaden erhalten. … “

Der Begriff des Schadens soll also gemäß dem Erwägungsgrund 146 weit ausgelegt werden, damit die Betroffenen einen wirksamen Ersatz erhalten. Die Erwägungsgründe Nr. 75 und 85 enumerieren nicht abschließend folgende Nichtvermögens- bzw. Vermögensschäden, die den Begriff des Schadens konkretisieren bzw. als Auslegungshilfe dienen: Diskriminierung, Identitätsdiebstahl, Identitätsbetrug, Rufschädigung, Verlust der Vertraulichkeit von dem Berufsgeheimnis unterliegenden personenbezogenen Daten, unbefugte Aufhebung der Pseudonymisierung, andere gesellschaftliche Nachteile, die an sich per se ein immaterieller Schaden sind, sich aber zudem zu einem materiellen Schaden verwirklichen können.

In der Tat erscheint es durchaus fragwürdig, inwiefern durch eine einzelne Werbe-E-Mail, das Bedürfnis nach einem wirksamen Ersatz in Form eines Schadensersatzes entstanden sein soll. Zwar ist das „Allgemeine Persönlichkeitsrecht“ nach Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Gestalt des Rechts auf „Informationelle Selbstbestimmung“ durch den Verstoß gegen Art. 6 DSGVO tangiert, allerdings führen nach der Rechtsprechung des BGH nur schwerwiegende Eingriffe in das „Allgemeine Persönlichkeitsrecht“ zu Geldersatzansprüchen. Einen solchen Fall stellt das Verschicken einer Werbe-E-Mail allerdings nicht dar. So sah es auch das AG Goslar. Im vorliegenden Fall liegt nur eine einzige Werbe-E-Mail vor, die nicht zur Unzeit versandt worden ist und aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes deutlich gezeigt habe, dass es sich um Werbung handele und die ein längeres Befassen mit ihr nicht notwendig gemacht hätte. Ebenso liegt kein Fall von Diskriminierung, Identitätsdiebstahl, Identitätsbetrug oder Rufschädigung vor. Nach dem AG Goslar hat der Schaden also die „Bagatellgrenze“ nicht überschritten.

Offene Fragen

Offen blieb die Frage, ob die Rechtsprechung des BGH zu Fällen, in denen eine Geldentschädigung wegen Verletzungen des „Allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ einen schwerwiegenden Eingriff erfordere, der nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden könne, auch für den hier geltend gemachten Art. 82 DSGVO übertragen werden kann. Dies erscheint in Anbetracht von Satz 3 des Erwägungsgrundes 146 fraglich, wonach der Begriff des Schadens im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs weit auf eine Art und Weise ausgelegt werden soll, die den Zielen dieser Verordnung in vollem Umfang entspricht. Explizit wird die Rechtsprechung des Gerichtshofs erwähnt, nicht jedoch nationaler Gerichte. Offen blieb somit letztlich auch die Frage, welche Anforderungen an eine Erheblichkeitsschwelle im Rahmen des Art. 82 DSGVO im Wege der Auslegung zu stellen sind und im Ergebnis die Frage, ob und wann Bagatellschäden vorliegen.

Berufung des Klägers

Die Berufung des Klägers scheiterte daran, dass eine Berufung nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nur statthaft ist, wenn der Beschwerdegegenstand 600 EUR überteigt. Dies war jedoch nicht der Fall.

Verfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG

So zog der Kläger mit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht. Der Kläger rügte eine Verletzung seines grundrechtsgleichen Recht nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, dem Recht auf den gesetzlichen Richter, indem das AG Goslar seiner Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachgekommen sei.

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hat das Urteil des AG Goslar das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den Europäischen Gerichtshof als seinen gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. Das AG hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV urteilen dürfen, dass der Kläger durch den Erhalt der Werbe-E-Mail keinen Schaden nach Art. 82 DSGVO erlitten habe, wie sich aus Folgendem ergibt:

Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV

Im Folgenden soll auf die Voraussetzungen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eingegangen werden.

Vorlagegegenstand

Gegenstand eines Auslegungsersuchens nach Art. 19 Abs. 3 lit. b Alt. 1 EUV können in der Regel alle Rechtssätze des Unionsrechts sein. Dazu zählen zunächst einmal die von Art. 267 Abs. 1 lit. a AEUV ausdrücklich genannten Verträge. Als Handlungen der Organe und der Einrichtungen oder sonstigen Stellen gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV sind darüber hinaus sämtliche sekundären Unionsrechtsakte Gegenstand eines Auslegungsersuchens iSd Art. 267 AEUV. Im Übrigen können somit Fragen zur Auslegung sämtlicher in Art. 288 Abs. 1 AEUV genannter Rechtsakte, d. h. zu Verordnungen, Richtlinien, Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen vorgelegt werden. Die DSGVO ist eine Verordnung iSv Art. 288 AEUV und somit grundsätzlich tauglicher Gegenstand iSv Art. 267 AEUV. Der im erstinstanzlichen Verfahren vor dem AG Goslar zu beurteilendem Sachverhalt wirft die Frage auf, unter welchen konkreten Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewähre und vor allem welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere in Relation zum Erwägungsgrund 146 S. 3 und einer möglichen Erheblichkeitsschwelle zu geben sei bzw. ob eine solche existiert. Ein tauglicher Antragsgegenstand liegt also vor.

Vorlagepflicht

Gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV sind nationale Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten werden können, zur Vorlage verpflichtet. Als Rechtsmittel im Sinne dieser Vorschrift gilt u.a. die Berufung. Gegen die Entscheidung des AG Goslar konnte jedoch aufgrund von § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht mehr mit der Berufung vorgegangen werden. Somit konnte die Entscheidung mit keinen nationalen Rechtsmitteln mehr verfolgt werden.

Keine Ausnahme

Eine Vorlagepflicht besteht nicht, wenn die Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall vorgelegt und durch den Europäischen Gerichtshof beantwortet wurde, wenn eine gesicherte unionsgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage vorliegt, durch welche die Rechtsfrage geklärt ist (sog. acte éclairé) oder die richtige Auslegung des Unionsrechts so offensichtlich ist, dass kein Raum für angebrachte Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Staaten und der Europäische Gerichtshof keine Zweifel an dieser Auslegung haben (sog. acte clair).

acte éclairé

Die Voraussetzungen des Geldentschädigungsanspruch nach Art. 82 DSGVO sind in der Rechtsprechung des Europäische Gerichtshofs nicht abschließend und umfassend geklärt. Weiterhin können seine Voraussetzungen nicht direkt aus der DSGVO bestimmt werden. Stimmen in der Literatur plädieren im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 DSGVO mehrheitlich für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes. Jedoch sind Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch ungeklärt. Somit liegt kein acte éclairé vor.

acte clair

Art. 82 DSGVO bezieht ausdrücklich immaterielle Schäden ein. Bereits deswegen liegt keine so offenkundig richtige Auslegungsmöglichkeit des Unionsrechts vor, die für angebrachte Zweifel keinen Raum zulässt. Folglich liegt auch kein acte clair vor.

Ausblick

Will also das AG Goslar die Frage entscheiden, ob auch „Bagatellschäden“ unter Art. 82 DSGVO fallen, so kann dies das AG nicht selbst entscheiden. Diese Frage muss dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt werden.

Nun kann das AG Goslar also die Fragen dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen oder aber die Berufung zum Landgericht ausdrücklich zulassen.

 

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