Informationelle Selbstbestimmung

Informationelle Selbstbestimmung

Das Volkszählungsurteil (BVerfG, Urteil v. 15. Dezember 1983, Az. 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83) aus dem Jahr 1983 ist der mit Abstand wichtigste Beitrag der Rechtsprechung zum Datenschutzrecht. Nahezu in jedem Gesetz mit datenschutzrechtlichem Einschlag hat das Urteil materiell direkten oder indirekten Niederschlag gefunden. Das Volkszählungsurteil ist somit essenziel für das Verständnis moderner Datenschutzregelungen. Im Folgenden soll deswegen ein Blick auf den grundrechtlichen Datenschutz und die Bedeutung des Volkszählungsurteils in diesem Kontext geworfen werden.

Ein Blick in das Grundgesetz

Blickt man in das Grundgesetz, so findet sich ausdrücklich kein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. Datenschutz. Dies vermag zu verwundern, denn jene Materie bietet gegenüber dem Staat einen äußerst großen und sensiblen Eingriffsbereich. Nichtsdestotrotz fand der Vorschlag ein Grundrecht auf Datenschutz zu kodifizieren keine erforderliche Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG von zwei Dritteln Stimmen der Mitglieder des Deutschen Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.

Das Volkszählungsurteil und ein zweiter Blick in das Grundgesetz

Mit dem Volkszählungsurteil wurde das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts etabliert. Somit ist das Urteil auch einer der bedeutendsten Beiträge des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsfortbildung.

Sachverhalt

Ausgangspunkt war eine vom Bund geplante Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1981. Nach Einschätzung der Bundesbehörden war eine solche notwendig geworden, um u.a. die Infrastruktur einem veränderten sozialen Gefüge anzupassen und entsprechende Reformen einzuleiten. Dies galt beispielweise für die Raum- und Verkehrsplanung und ebenso für die soziale Versorgung. Wegen eines Streits um die Höhe des Bundeszuschusses zur Volkszählung verzögerte sich die Verabschiedung des Gesetzes zunächst bis 1982.

Nach der schlussendlichen Verabschiedung des Gesetzes über eine „Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung“ am 25.03.1982 sollten sämtliche Einwohner der Bundesrepublik Deutschland gezählt und statistisch erfasst werden.

Das Volkszählungsgesetz (VZG) enthielt Vorschriften darüber, wie und mit welchem Inhalt die dazu vorgesehenen Befragungen durchgeführt werden sollten und was nach den Befragungen mit den erhobenen Informationen geschehen sollte bzw. wie und wofür sie genutzt werden sollten.

Innerhalb weniger Wochen nach Bekanntgabe der Fragebögen über die Volkszählung wurden bereits hunderte von Initiativen gebildet, die zum Boykott der Volkszählung aufriefen. Gegen das Bundesgesetz wurden mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben. Die Kläger beanstandeten, dass die Ausführlichkeit der Fragen in den entsprechenden Volkszählungsbögen bei ihrer Beantwortung Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulassen würden. Im Hintergrund stand die Befürchtung des „gläsernen Bürgers“. Teilweise wurde die Volkszählung sogar als einen Schritt in Richtung Überwachungsstaat gesehen.

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG

Um die Kernelemente des Urteils zu verstehen, muss zunächst ein Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht geworfen werden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist als „Kombinationsgrundrecht“ konstruiert, dessen Verankerung sich in Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG findet. Der Inhalt bzw. der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gehört zu den am schwersten fassbaren Grundrechten des Grundgesetzes.

Im Zentrum des allgemeinen Persönlichkeitsrechts steht die Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung kann auf unterschiedlichen Stufen, auch genannt Sphären, betroffen sein. Zur Konkretisierung dieser, mehr oder weniger nichts sagenden, Worte wird regelmäßig auf die sogenannte Sphärentheorie zurückgegriffen.

Die Sphärentheorie unterscheidet zunächst zwischen drei unterschiedlichen Sphären. Dabei steigen die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit eines staatlichen Eingriffs je mehr im Bild konzentrischer Kreise der innere Bereich berührt wird, wenn man sich die Sphären bildlich vorstellt. Nach der Sphärentheorie lässt sich zwischen einer inneren Sphäre, die die individuelle Identität markiert, einerseits und einer äußeren Sphäre, welche die soziale Identität umfasst, andererseits unterscheiden. Innerhalb der erstgenannten wird dann wiederum zwischen Intimsphäre und der Privatsphäre in ihren mannigfachen Ausdifferenzierungen zu unterscheiden sein. Jene mannigfaltigen Ausprägungen der Privatsphäre sind nicht abschließend geregelt. Sie sind die Summe unbenannter, in der Rechtsprechung entwickelter Persönlichkeitsrechte. Schlussendlich reiht sich auch das Volkszählungsurteil in diese Reihe der Rechtsfortbildung ein. Während die Intimsphäre also nur den Kern der privaten Lebensgestaltung umfasst, lebt die Privatsphäre von der Entwicklungsoffenheit. Dieser Mechanismus gewährleistet, dass Elemente der Persönlichkeit garantiert werden, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer Bedeutung für die Persönlichkeit ebenbürtig und sich im Laufe der Jahrzehnte verändern und neu konstituieren.

Zum Urteil

Die Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen eine Vielzahl der Vorschriften des Volkszählungsgesetzes.

  • § 1 bis 8 VZG

Zunächst hat das Bundesverfassungsgericht die angegriffenen §§ 1 bis 8 VZG für verfassungsgemäß erklärt. Diese Normen befassten sich mit dem Programm und der Durchführung der Datenerhebung. Die Grundrechte nach Art. 4, 5 und 13 GG seien nicht verletzt.

  • 9 VZG und die Herleitung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung

Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Regelungen zur Übermittlung der durch die Volkszählung gewonnenen Daten zwischen staatlichen Stellen in § 9 Abs. 1 bis 3 VZG gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG verstießen. Das Bundesverfassungsgericht führte dazu weiter an, dass bisherige Urteile zum Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht abschließend waren und betonte die Entwicklungsoffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Damit leitet es die Herleitung einer neuen Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein und führt an, dass die Befugnis des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen in den heutigen und künftigen Bedingungen der automatisierten Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes bedarf. Der Schutz des Einzelnen müsse sich gegen unbegrenzte und unkontrollierte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten richten. Durch die neueren und zukünftigen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten der Informationstechnologien könne beispielweise ein für sich alleine als belanglos beurteiltes Datum einen neuen Stellenwert erhalten. Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung von nun an und in Zukunft kein belangloses Datum mehr gebe. Das Gericht umschreibt hier das Phänomen des Panoptimismus. Der Begriff Panoptimismus wurde vom französischen Philosophen Michel Foucault eingeführt und beschreibt das Phänomen des steigenden regelkonformen Verhaltens von Menschen, in Anbetracht einer zunehmenden Zahl von Kontroll- und Überwachsungsmechanismen. Wer nicht weiß welche Informationen von ihm gespeichert werden und auf welche Art und Weise dies geschieht, wird aus reiner Vorsicht sein Verhalten anpassen. Dadurch wird die Entfaltung der Selbstbestimmung eingeschränkt.

Wie jedes Grundrecht, außer der Menschenwürde, ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht unbeschränkt gewährleistet. Der einzelne Bürger müsse Eingriffe, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit stehen hinnehmen. Aus Art. 2 Abs. 1 GG ergebe sich, dass diese Eingriffe nur auf einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen können. Das Bundesverfassungsgericht lässt einen Zwang zur Angabe von Daten nur dann zu, wenn das Gesetz den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und die Angaben darüber hinaus für den angegebenen Zweck geeignet und erforderlich sind. Des weiteren ist die Verwendung der so erlangten Daten auf den im Gesetz festgeschriebenen Zweck begrenzt. Das Bundesverfassungsgericht umschreibt so die üblichen Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit.

Speziell im Falle der Erhebung von Statistiken können jedoch eine enge und konkrete Zweckbindung der Daten nicht verlangt werden. Es liege gerade in der Natur einer Statistik, dass statistisch aufbereitete Daten für die verschiedensten, nicht im Voraus bestimmbaren Aufgaben verwendet werden sollen. Dadurch muss nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch eine Speicherung solcher Daten auf Vorrat möglich sein. Allerdings müsse dabei aber immer noch sichergestellt werden, dass der Einzelne unter den jeweiligen Bedingungen einer automatischen Erhebung und Verarbeitung der seine Person betreffenden Angaben nicht zum bloßen Objekt der Informationsgewinnung wird. Um dies zu gewährleisten, fordert das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Datenerhebung und -verarbeitung für statistische Zwecke eine absolute Geheimhaltung der Einzelangaben, deren möglichst frühzeitige Anonymisierung sowie Vorkehrungen gegen eine Deanonymisierung. Nach einer Anonymisierung ist in der Regel auch eine Übermittlung von Daten zwischen staatlichen Stellen zu einem anderen Zweck als der Statistik mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar. Sehe ein Gesetz eine Datenübermittlung zu anderen Zwecken als dem der Statistik, etwa des Verwaltungsvollzugs, vor, seien jedoch immer noch stets die Grundsätze der Einhaltung der Zweckbestimmung und der Bestimmtheit zu beachten. Es müsse konkrete Angaben darüber enthalten, für welchen Bereich des Verwaltungsvollzuges die Daten verwendet werden sollen.

Eine Übermittlung der Daten allgemein für den Verwaltungsvollzug, wie sie § 9 Abs. 1 VZG vorsah, verstößt somit gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Begriff des „Verwaltungsvollzug“ lässt keinen Rückschluss auf den konkreten Zweck zu und ist zu unbestimmt. Die Meldebehörden sind nach dem Melderechtsrahmengesetz (MRRG) verpflichtet, die Daten weiterzugeben. Somit ist es für den Bürger nicht mehr berechenbar, an welche Behörde im Laufe der Zeit Angaben über ihn zu welchem Zweck übermittelt werden. Auch § 9 Abs. 2 VZG verstieß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gegen das Bestimmtheitsgebot. Auch § 9 Abs. 3 VZG entsprach nicht den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen. Diese Vorschrift ließ nicht klar erkennen, zu welchem konkreten Zweck die Daten übermittelt werden sollten, ob nur für rein statistische oder auch zu Verwaltungsvollzugszwecken.

Praktische Konsequenzen

Die Folge des Urteils war eine Flut von Anpassungen zahlreicher Gesetze an die verfassungsrechtlichen Anforderungen. Inzwischen ist die datenschutzrechtliche Prüfung ein obligatorischer Bestandteil der Gesetzesvorbereitung. Auch mussten von nun an den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht entsprechende Gesetze soweit wie möglich verfassungskonform, d.h. datenschutzfreundlich, ausgelegt werden. Besonders wichtig ist auch die Möglichkeit der Betroffenen aufgrund von Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohne ausreichende gesetzliche Grundlage vor Gericht zu klagen, bis hin zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.

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